Lieber Khaled Said,
ich habe dich nie persönlich kennen lernen dürfen. Vor ein paar Jahren bin ich zu Fuß durch deinen Stadtteil Sidi Gaber in Alexandria gelaufen. Vielleicht sind wir uns sogar begegnet und ich habe dich nach dem Weg gefragt. Ich weiß es nicht. Ich war nur ein normaler junger Mann auf Reisen und du warst nur ein ganz normaler junger Mann, der dort zu Hause war. Dann kam der furchtbare Tag, der dein Leben so plötzlich und grausam beendete.
Ich sah die Bilder von dir und war zutiefst empört. Ich sah einen freundlichen und lebensfrohen Menschen und dann das unsagbare Leiden, welches dein von der Polizei übel zugerichteter Körper mit voller Wucht in mein Bewusstsein hämmerte. Ich kannte dich nicht, aber mein Herz war berührt und ich spürte eine unglaubliche Wut. In dir sah ich einen Freund von mir, dem die Polizei einfach so die Haare abgeschnitten hatte; einen anderen, der tagelang grundlos auf einer Polizeistation eingesperrt war; am Bahnhof festgehaltene Menschen, die von der Polizei vor meinen Augen übel geschlagen wurden; die Menschen um mich herum, die täglicher Schikane ausgesetzt waren. Sie alle leben hoffentlich noch. Du hattest nicht so viel Glück.
Und ich war nicht allein. Wie mir ging es Millionen von Menschen in deinem Land, die dich nicht persönlich kannten. Sie alle sahen in dir einen ganz normalen jungen Mann, dem die grausame ägyptische Realität in der denkbar schlimmsten Form mitgespielt hatte. Du hast den höchsten Preis bezahlt und damit dieser Realität dein Gesicht gegeben. Du warst plötzlich alle und alle waren plötzlich Khaled Said. In diesem Moment ist etwas passiert, was nicht mehr aufzuhalten war.
Dann kam der #Jan25 und hunderttausende Menschen jagten den Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak aus dem Amt. Die Revolution ist in einer einzigen Karikatur zusammengefasst: zwischen deinen Fingern baumelt am ausgestreckten Arm der kleine Mubarak in Schockstarre. Du hast einem ganzen Land dein Gesicht und eine Stimme gegeben. Du bist ein Symbol geworden für die Unterdrückten, Schikanierten, Entrechteten. Dein Bild steht für das schreiende Verlangen nach Würde und Menschenrechten. In deinem Land haben Millionen Khaled Saids die Chance auf eine bessere Zukunft für sich, ihre Kinder und Enkelkinder teuer erkämpft. Eine Chance - noch nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das lässt bei allen großen Worten die eine, entscheidende Tatsache schmerzlich ins Bewusstsein treten: Diese Zukunft ist nicht deine. Du wirst nicht wieder lebendig. Ruhe in Frieden.
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